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Forschung/EvaluationKommunalesNiedersachsen

Wahl und Nichtwahl

Eine Studie des Göttinger Instituts für Demokratieforschung in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung untersucht Politikeinstellungen und Politik-Hoffnungen in mehreren Göttinger Stadtvierteln. Sie liefert Erkenntnisse zur politischen Partizipation in sozial schwachen und Problemvierteln.

Die aktuelle Untersuchung ergab, dass während die Wähler_innen das Gefühl äußerten, dass lokale Politik „noch ansprechbar“ sei und „wirklich etwas bewirken“ könne, wussten Nichtwähler_innen weder über die Partizipationsmöglichkeiten eingehend Bescheid, noch empfanden sie in den Gesprächen Kommunalpolitik als grundsätzlich nahbarer.

Auffällig war weiterhin, wie wenig die in Grone-Süd eingerichteten Möglichkeiten zum Engagement, zu Viertelgesprächen, -dialogen und -runden an der Tatsache ändern konnten, dass es auch hier, wie auf dem Leineberg und dem Holtenser Berg desgleichen, nur eine bestimmte Gruppe innerhalb des Viertels war, welcher die Partizipationsmöglichkeiten eine nachgerade selbstverständliche Gelegenheit boten, sich einzubringen. Dass den Nichtwähler_innen in der Tendenz die Möglichkeiten zum Engagement und zur Beteiligung in den Gruppengesprächen viel weniger bekannt waren und sie diese auch für ein eigenes Engagement viel weniger in Betracht zogen, macht eben auch deutlich, wie wenig intensivierte Partizipationsangebote allein an dieser Spaltung innerhalb der Gesamtgesellschaft und innerhalb der Teilgesellschaften der Stadtviertel verändern dürften.

Politisches, gar parteipolitisches Engagement per se galt (und gilt) vielen als kompromittierend. Umso wichtiger erscheint eine vorsichtige, vordergründig und jedenfalls zunächst unpolitische Ansprache, um Menschen aktiv zuerst zu Engagement bewegen und ihnen in der Folge vermitteln zu können, selbst etwas zu bewirken.

Ein Beispiel hierfür sind sogenannte „Kümmererstrategien“, mit denen über langfristig angelegte, konkrete Hilfs- und Beratungsangebote Vertrauen in die Motive der Politik und später in die Möglichkeiten, mitzumachen aufgebaut werden kann. Selbstwirksamkeit ist eine Erfahrung, die gemacht zu haben Wähler_innen in viel größerem Umfang für sich reklamieren als Nichtwähler_innen. Sie scheint folglich ein lohnender Ansatzpunkt, um zukünftig die Wahlbeteiligung im Speziellen und politisches Engagement im Allgemeinen zu heben. Zeitgleich wurde in den Gesprächen deutlich, dass die Lokalpolitik und lokale Präsenz von Demokratie und deren Repräsentanten die Grundlage der Anerkennung positiver politischer Gestaltungsfähigkeiten sind. Die Verbindung gezielten Handelns mit konkreten Ergebnissen gelingt hier plausibler, besitzt aber gerade dadurch auch das Potenzial für größere Enttäuschungen. Umso wichtiger wäre es beispielsweise, auf die verstärkte Einbindung von Menschen aus den Vierteln mit niedriger Wahlbeteiligung in die lokale Politik zu setzen.

Wenn vertrauenswürdige Multiplikatoren vor Ort – noch einmal: über vordergründig unpolitische Formate – deutlicher machen können, welche Gestaltungs- oder Verbesserungsmöglichkeiten ein (politisches) Engagement mit sich bringen kann, mag auch eine Umkehrung des in der Forschung beschriebenen „Ansteckungseffekts“ der Nichtwahl denkbar werden. Hinweise darauf, dass engagierte, aus dem eigenen Viertel stammende, folglich im Alltag greifbare und gerade deshalb als authentisch wahrgenommene Persönlichkeiten ihre Erfahrungen in ihr soziales Umfeld zu vermitteln vermögen, fanden sich in Gesprächen jedenfalls in großer Zahl. Insofern können selbstbewusste und engagierte Bürger_innen im Viertel einen durchaus positiven Einfluss auf die Politikbilder in ihrer Nachbarschaft haben, wenn sie als Beispiele für eine Ansprechbarkeit und Vertrauenswürdigkeit von Politik und Engagement fungieren. Dies ist allerdings kein Automatismus: Genauso können sie den Nicht-Engagierten und Nicht-Interessierten eine soziale Spaltung vor Augen führen, die das Viertel selbst trennt in diejenigen, die ihre Interessen vertreten können und diejenigen, die ungehört bleiben.

Kurzum: „Gemeinwesenarbeit“ hatte in ihren Ursprüngen und hat bis heute einen genuin politischen Charakter. Menschen dafür zu stärken, dass sie sich für „ihre“ Interessen einsetzen; dass sie sich um das kümmern, was tagtäglich in ihrem Umfeld gemacht wird; dass sie sich beteiligen, ihre Ideen einbringen, an deren Umsetzung mitwirken und darüber Selbstvertrauen erwerben sowie einen Eindruck von Möglichkeiten (und Grenzen) der individuellen Selbstwirksamkeit gewinnen – diese Partizipation zu fördern, gelingt in der Praxis noch zu wenig.

Gerade politische Parteien, die ein Interesse an steigender Beteiligung bei ihre politische Gestaltungsmacht legitimierenden Wahlen haben, sollten sich an dieser Stelle stärker engagieren. Freilich: Selbst dann wird es nicht einfach für Parteien, die modernen Unterschichten, die ja mit der proletarischen Arbeiterschaft seligen Angedenkens nicht (mehr) viel gemein hat, in großer Zahl zu gewinnen. Nicht zuletzt deshalb, weil sie in der Wahrnehmung der Bürger_innen – und zwar je höher in den Parteirängen und der Ämterhierarchie desto stärker – kaum noch Berührungspunkte mit diesen besitzen. Das klingt abgedroschen, wirkt altbekannt, ist dadurch aber nicht weniger richtig. Es ist schon bemerkenswert, wie wenig die von uns Befragten ihre Hoffnungen auf Parteien richten; so wurde beispielsweise der Name der Sozialdemokratischen Partei in den Gesprächen nicht einmal genannt, auch ihre prominenten Vertreter blieben meist unerwähnt, wie überhaupt Politikerpersonen kaum je Gegenstand der Diskussion waren. (S. 55 ff.)

Download der Studie hier: http://www.demokratie-goettingen.de/blog/studie_nichtwaehler