Ungewöhnlich: Oberbürgermeister will Bürgerentscheid – Gemeinderat ist dagegen
Soll es in Tübingen neue Gewerbeflächen für größere Betriebe geben? Diese Frage wollte Oberbürgermeister Boris Palmer von der Bevölkerung beantworten lassen. Die Mehrheit des Gemeinderats war dagegen.
In einem Zeitungs-Interview hatte Palmer vorgeschlagen, zwei Streitfragen den Bürgern zur Abstimmung vorzulegen: zur Grundsatzfrage, ob im neuen Flächennutzungsplan 10 weitere Hektar für Gewerbeflächen für Erweiterungen Tübinger Betriebe ausgewiesen werden sollen. Und wenn ja, ob das Gebiet beim Au-Brunnen dafür der richtige Standort ist. Abgestimmt werden sollte, so Palmers Vorschlag, zusammen mit der Bundestagswahl am 24. September 2017. Im Verwaltungsausschuss der Stadt Tübingen sprachen sich alle Fraktionen gegen dieses Vorgehen aus:
Die repräsentative Demokratie funktioniere, sagte Ulrike Ernemann (CDU). „Wir sind im Austausch mit den Bürgern.“ Der Gemeinderat entscheide auch über andere wichtige Fragen. „Warum nicht ausgerechnet in dieser Frage?“
Ernst Gumrich (Tübinger Liste) sagte, die grundsätzliche Frage nach den Grenzen des Wachstums sei sehr komplex. Die Fraktion habe selbst noch keine Antwort. Die Frage nach dem Standort „kann der Gemeinderat entscheiden“, so Gumrich.
Die Fraktion von AL/Grünen ist gespalten, wie Bruno Gebhart sagte. Er und Ulrike Baumgärtner sind auf jeden Fall gegen einen Bürgerentscheid. Er geht davon aus, dass die Bürger gegen eine Bebauung des Wasserschutzgebiets Au sind. „Die Stimmung ist so, dass ich für die Bevölkerung entscheiden kann“, nahm Gebhart für sich in Anspruch. „Die Auseinandersetzung verläuft zwischen der Verwaltungsspitze und der Bevölkerung“, kritisierte er seinen grünen Parteifreund, OB Palmer.
Für die SPD lehnte Martin Sökler einen Bürgerentscheid zur Grundsatzfrage ab. Die Fraktion sei überzeugt, dass Tübinger Betrieben 10 weitere Hektar in den nächsten Jahrzehnten zur Verfügung stehen müssen. Das sei Grundlage des Wohlstands, auch für Kitaplätze und anderes. Zudem müssten bei einem Bürgerentscheid auch die umstrittenen Erweiterungen des Uniklinikums und der Uni sowie die Flächenversiegelung für Wohngebäude abgestimmt werden. Doch: „Beim Wohnen ist es klar: Ohne Neubauten würde die ganze Stadt gentrifiziert.“ Und ohne Erweiterung und UKT wird die Stadt sich „ins Knie schießen“. Bleibe die Frage nach dem Standort. Sie will die SPD vom Bürger entscheiden lassen. Weil sich mancher im Rat sonst vielleicht dem Druck von Bürgerinitiativen beuge und um den Streit zu befrieden.
Die Linke ist gegen den Termin 24. September. Sie fürchtet eine Vermischung mit Themen der Bundestagswahl. Sie sei für Bürgerentscheide, sagte Gerlinde Strasdeit, aber die lokalen Themen würden unter die Räder kommen. Auch brauche die Diskussion noch Zeit.
Dietmar Schöning (FDP) äußerte seine Skepsis gegenüber einem Bürgerentscheid. „Wozu haben wir euch gewählt?“ höre er. Auch gehe es um Abwägungsfragen und keine, die mit Ja oder Nein zu beantworten seien. „Für den Abwägungsprozess sind wir im Gemeinderat zuständig“, sagte er und kritisierte die Verwaltung scharf: „Wir haben über das Thema im Gemeinderat bisher nicht die Bohne diskutiert.“ Bei Frage eins lehne die FDP einen Entscheid ab, bei Frage zwei könne er sich ihn unter Umständen vorstellen. Aber nicht schon am 24. September.
Oberbürgermeister Palmer verteidigte seinen Vorschlag:
„Nach meiner Wahrnehmung ist der Bürgerwille nicht erkennbar“, widersprach er ausdrücklich Gebhart. „Man sollte die Lautstärke nicht mit der Zahl der Menschen verwechseln.“ Palmer hält das Thema nicht für zu komplex: „Die Leute können es sehr wohl beurteilen.“ Ein Bürgerentscheid habe zudem eine Befriedungsfunktion. Auch er würde sich der Mehrheit beugen.
Der OB wurde auch emotional: „Ich finde es geradezu skandalös, dass ich nach 25 Jahren als Bürger in keiner Sache entscheiden durfte.“
Auch der Gemeinderat lehnte den Vorschlag ab:
AL/Grüne waren sich uneinig. Bruno Gebhart sagte, er habe als gewählter Stadtrat ein Mandat von den Bürgern. Er könne sich sachkundig machen und müsse nicht noch einmal die Bürger befragen. Denn deren Meinung sei ja deutlich. „Die Bürger wollen nicht, dass die Au bebaut wird.“ Allerdings kündigte er an, dass, wenn der Gemeinderat „falsch“ entscheide, die Initiative einen Bürgerentscheid anstrengen werde, „das ist ja klar“. Christoph Joachim sagte, er wolle schon wissen, was die Tübinger wollen und wie sie denken.
Ulrike Ernemann (CDU) plädierte für „eine Entscheidung auf dem Weg der repräsentativen Demokratie“. „Wir sind gewählt und dieser Verantwortung müssen und wollen wir uns stellen.“
Martin Sökler (SPD) meinte: „Wenn die, die am lautesten schreien, sagen, sie wüssten, was die Bürger wollen, dann ist das ein unmögliches Demokratieverständnis.“ Man müsse auch die fragen, die sich bisher nicht geäußert haben.
Ernst Gumrich (Tübinger Liste) lehnte den Bürgerentscheid ab. Im Fall einer Bürgerbefragung stehe der Gemeinderat unter Druck, falls sie für die Bebauung der Au ausfiele. „Wir wären dann trotzdem dagegen.“
Gerlinde Strasdeit (Die Linke) kritisierte den Zeitpunkt des Bürgerentscheids, der bei der Bundestagswahl sein sollte. Zur Information bliebe dann nur die Sommerpause. Sie warf dem Oberbürgermeister vor, „den Entscheid zu missbrauchen, um je nach Gusto am Gemeinderat vorbei zu entscheiden“.
Dietmar Schöning (FDP) kritisierte, dass bisher noch nicht einmal der Gemeinderat über das Thema Au oder Schelmen diskutiert habe, weshalb auch er gegen einen Bürgerentscheid sei.
Jürgen Steinhilber (fraktionslos) sagte, der Bürger sei der Souverän. Das Thema sei nicht zu schwierig für einen Bürgerentscheid. Wer so denke, betreibe „Politik auf Gutsherrenart.“
Markus Vogt (Die Partei) unterstellte Palmer „taktische Gründe“ für den Bürgerentscheid, weshalb auch er dagegen stimmte.