Brasilien: digitale Werkzeuge ermöglichen Bürgerbeteiligung gegen staatlichen Widerstand
Bei der Bürgerbeteiligung erreichte Fortschritte können jederzeit vom Staat wieder rückgängig gemacht werden. Das zeigt das Beispiel Brasilien, wie Thamy Pogrebinschi und Melisa Ross in den WZB Mitteilungen vom März 2020 beschreiben. Sie weisen aber auch nach, dass die Zivilgesellschaft mit Hilfe digitaler Werkzeuge selber Bürgerbeteiligung ermöglichen kann.
Brasilien (war) seit den 1980er-Jahren Vorreiter beim Experimentieren mit demokratischen Innovationen, neuen Instrumenten und Formen demokratischer Mitbestimmung. Der Bürgerhaushalt in Porto Alegre erlangte als eines der ersten derartigen Projekte weltweite Bekanntheit. Mehr Bürgerbeteiligung, so die Hoffnung, solle die Demokratie stärken. Die Regierung der Arbeiterpartei (2003 bis 2016) investierte viel in partizipative Projekte und erreichte eine bemerkenswerte Beteiligung von Bürger*innen beim Zustandekommen von Regelwerken und Gesetzen. Herausragende Beispiele sind Nationale Policy-Konferenzen oder die Rahmenregulierung des Internets (Marco Civil da Internet), also politische Entscheidungsprozesse, die es den Bürger*innen und der Zivilgesellschaft ermöglichten, direkt Einfluss auf die Politik zu erheben.
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Eine der ersten Amtshandlungen Bolsonaros nach Übernahme der Präsidentschaft 2019 war es, Dutzende partizipative Räte per Dekret aufzulösen. Gut funktionierende Institutionen, die über viele Jahre Politik mitgestaltet und überwacht hatten, wurden damit im Handumdrehen geschlossen. Der Oberste Gerichtshof des Landes griff ein, konnte aber nur die Schließung jener Projekte verhindern, die durch die Verfassung und nationale Gesetze geschützt waren. Bolsonaro reichte dies nicht. Er kürzte die Gelder und behinderte den Zugang der gewählten Vertreter der Zivilgesellschaft zu den verbliebenen demokratischen Institutionen, die zum Teil schon während des Demokratisierungsprozesses in den 1980ern geschaffen worden waren. Der sogenannte partizipative Konsens ist damit definitiv aufgekündigt worden.
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(Dennoch besteht) Hoffnung, dass auch in Zeiten des autoritären Populismus in Brasilien Raum für demokratische Innovationen bleibt. Es zeigt sich nämlich, dass es der Zivilgesellschaft inzwischen gelungen ist, neue politische Räume zu besetzen und sogar die Führung bei demokratischen Innovationen zu übernehmen. (…) Seit 2016 wurden 60 Prozent der demokratischen Innovationen ohne Beteiligung des Staates geschaffen. (…) Gleichzeitig übernahm die Zivilgesellschaft sehr schnell die Führung. (…) Oft bedient sich die Zivilgesellschaft digitaler Werkzeuge, um eine Bürgerbeteiligung zu ermöglichen. (…) Bürger*innen beteiligten sich etwa über Internetplattformen und Smartphone-Anwendungen. (…) Die Digitalisierung erweist sich damit als bahnbrechendes Instrument. Sie ermöglicht es der Zivilgesellschaft, demokratische Beteiligung mit nur geringen Ressourcen umzusetzen und viele Menschen zu erreichen.
Ausführlich hier: https://bibliothek.wzb.eu/artikel/2020/f-22773.pdf