Stay home and participate? Was wir von der Bürgerbeteiligung unter der Kontaktsperre für die Zeit danach lernen können
Bürgerversammlungen, Infomärkte und Erörterungstermine fallen aus, weil nicht mehr als zwei Menschen zusammenkommen dürfen. Bürgerräte und Planungsworkshops finden nicht statt, weil die Teilnehmer*Innen ihre Mitwirkung daran absagen. Bürgerbegehren können nicht durchgeführt werden, weil Unterschriftensammlungen auf der Straße untersagt sind. Kein Zweifel, Bürgerbeteiligung, wie sie sich in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat, ist derzeit nicht möglich, weil wir alle zu Hause bleiben müssen.
Wie können jetzt noch zwischenmenschliche Dialoge stattfinden, deren Ziel es ist, Ideen zu sammeln, Meinungen und Argumente auszutauschen und politische Entscheidungen vorzubereiten? Lässt sich Bürger- und Öffentlichkeitsbeteiligung ins Internet verlagern? Können virtuelle Beteiligungsformate von der Ergänzung zum Ersatz realer Zusammenkünfte werden? Ist es denkbar, dass wir uns auch nach der Corona-Krise nur noch im Internet austauschen und beteiligen?
Beteiligungsformate wie Stadtspaziergänge mit Ortsterminen oder Besichtigungen, die vor Ort stattfinden, lassen sich – trotz Virtual Reality und 3-D-Simulationen – nur unter größten (technischen) Schwierigkeiten ins Internet verlagern. Bei Mediationsverfahren, die vom persönlichen Austausch in einer vertrauensvollen Atmosphäre leben, ist eine virtuelle Verhandlung schwer vorstellbar. Besser sieht es bei anderen Beteiligungsformaten aus.
Bürgerversammlungen/Erörterungstermine
Klassische (Bürger-)Versammlungen, die üblicherweise einen hohen Anteil an Top-Down-Information haben, lassen sich problemlos mit Skype, Zoom oder ähnlichen Video-Konferenzsystemen live nachbilden.
Dabei hat eine Online-Bürgerversammlung einige signifikante Vorteile:
- Eine Teilnahmemöglichkeit ist auch für Menschen gegeben, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht von Zuhause weg können oder den Weg zum Versammlungsort scheuen. So können sich auch Bevölkerungsgruppen beteiligen, die üblicherweise bei klassischen Versammlungen fehlen.
- Sofern das Konferenzsystem das zulässt, kann im Prinzip eine unbegrenzte Zahl von Teilnehmer*innen an der virtuellen Versammlung teilnehmen. Niemand muss draußen bleiben, alle sind gleich nah dran am Geschehen und stets auf Augenhöhe mit den Vortragenden und ihren Präsentationen.
- Wer sich nicht traut, vor einem großen Publikum eine Frage zu stellen, oder wer angesichts einer Vielzahl von Wortmeldungen nicht drankommt, kann jetzt über die Chatfunktion fragen oder kommentieren. So kann die Dominanz bestimmter redegewandter Teilnehmer*innen, die auch geschulte Moderator*innen nicht immer in den Griff kriegen, gebrochen werden.
- Wer zum vorgegebenen Zeitpunkt nicht an der virtuellen Versammlung teilnehmen kann, hat später die Möglichkeit, den aufgezeichneten Stream anzuschauen, dabei vor- oder zurückspulen und Vortragsfolien beliebig lange zu studieren. Eine lückenlose Dokumentation der Versammlung ist sichergestellt; Missverständnisse können leichter vermieden werden.
Auch schon vor Corona-Zeiten gab es entsprechende Technikangebote, indem real stattfindende Versammlungen live ins Internet gestreamt wurden und Chatfunktionen vorhanden waren. Sie wurden aber nur selten eingesetzt und noch seltener genutzt.
Neben den unbestreitbaren Vorteilen gibt es jedoch auch zahlreiche Nachteile, die mit reinen Online-Konferenzen verbunden sind.
- Teilnehmen an einer Internetversammlung kann nur, wer über die entsprechende Technik verfügt und sie zu bedienen weiß. Nicht nur eine Computer-Grundausstattung mit Lautsprecher und Mikro ist nötig, sondern auch eine stabile Internetverbindung, die einen lückenlosen Stream ermöglicht. Beides ist bei manchen Bevölkerungsgruppen und in bestimmten Landesteilen (noch) nicht vorhanden. Selbst ein Smartphone, mit dem im Prinzip eine Teilnahme an Videokonferenzsystemen möglich wäre, hat (noch) längst nicht jeder. Damit aber schafft Internetpartizipation neue soziale Selektivitäten.
- (Bürger-)Versammlungen sind immer auch eine Gelegenheit für Protest. Zwischenrufe sind nicht mehr möglich, wenn die Teilnehmer*innen zentral stumm geschaltet werden können. Wer ein Transparent vor seine Webcam hält, erzielt damit kaum die Wirkung, die eine Protestaktion bei einer öffentlichen Veranstaltung hat. Online-Beteiligung reduziert damit das Spektrum der möglichen Konsultationsformate.
- Emotionen lassen sich virtuell nur schwer vermitteln: es ist ein Unterschied, ob jemand seine Empörung oder seine Sorgen live vorträgt oder ob er sie in der Chatfunktion äußert – da helfen auch keine Emojis.
- Auf der anderen Seite können böswillige Teilnehmer*innen mit vorfabrizierten Textbausteinen die Chatfunktion fluten und damit einen sinnvollen Online-Dialog unmöglich machen. Das kann eventuell durch andere technische Formate wie Abfragetools ausgeglichen werden, insgesamt wird dadurch aber die Komplexität des Online-Formats weiter gesteigert.
Runde Tische, Workshops, Bürgerräte
Andere Bürgerbeteiligungsformate wie Runde Tische und (Planungs-)Workshops – auch solche mit zufällig ausgewählten Teilnehmer*innen, wie z.B. Bürgerräte – können ebenfalls online abgehalten werden.
- Die Teilnehmer*innen können Experteninputs über geteilte Bildschirme erhalten, detaillierte Pläne können so gezeigt werden, dass jeder sie sehen kann. Auch moderierte Tischdiskussionen können virtuell in abgeschirmten Räumen durchgeführt werden.
- Dadurch, dass lange Anreisezeiten und Abwesenheiten von Zuhause vermieden werden können, lassen sich möglicherwiese diejenigen zufällig ausgelosten Teilnehmer*innen aktivieren, die unter normalen Umständen eine Einladung hätten ausschlagen müssen.
- Auf Seiten der Organisator*innen bundesweiter Beteiligungsveranstaltungen lassen sich bei einem virtuellen Format hohe Kosten vermeiden, die durch die Anmietung von Räumlichkeiten, die Übernahme von Reise- und Übernachtungskosten sowie die Verpflegungsaufwendungen für die Teilnehmer*innen entstehen.
Diesen Vorteilen stehen jedoch auch hier Nachteile gegenüber.
- Für die Teilnehmer*innen an einem Workshop oder Bürgerrat gilt hinsichtlich der notwendigen technischen Ausstattung das bereits für virtuelle Versammlungen Ausgeführte. Zwar könnten sie von den Veranstaltern, sofern diese dazu finanziell in der Lage sind, mit dem nötigen technischen Equipment ausgestattet werden; eine mangelhafte Internetverbindung lässt sich dadurch jedoch nicht verbessern, und fehlende IT-Kenntnisse der Teilnehmer*innen könnten eine unüberwindbare Hürde darstellen.
- Das größte Manko bei einem Verzicht auf den persönlichen Austausch ist allerdings der Verlust des zwischenmenschlichen Kontakts. Denn das ist ja gerade die Besonderheit der Beteiligungsformate mit zufällig zusammen gesetzter Teilnehmerschaft, wie einem Bürgerrat: wildfremde Menschen aus ganz unterschiedlichen Lebenszusammenhängen, die sich sonst nie über den Weg gelaufen wären, geschweige denn miteinander geredet hätten, lernen sich kennen, tauschen sich persönlich aus und lernen vom anderen – auch deren Emotionalität. Gespräche in den Kaffeepausen zum Beispiel – bei Beteiligungsformaten wie Open Space ausdrücklich zum Veranstaltungsprinzip erhoben – fallen weg.
- Mimik und Gestik entfalten kaum Wirkung, und Zwischentöne können überhört werden. Es bleibt die bizarre Situation, dass man zwar seine Gesprächspartner*innen und sich selbst in kleinen Vorschaubildern live sehen kann, aber nie sicher ist, wer einen denn nun gerade anschaut und wie die Zuhörer*innen auf den eigenen Wortbeitrag reagieren.
- Schließlich besteht bei virtuellen Diskussionen, insbesondere dann, wenn man nur per Telefon bzw. Audio zugeschaltet ist, die Gefahr, dass die Teilnehmer*innen nicht konzentriert bei der Sache bleiben. Es ist eben verführerisch, während eines (vermeintlich) langweiligen Wortbeitrags am Handy zu spielen, die Toilette aufzusuchen oder andere ablenkende Verrichtungen vorzunehmen
Die derzeitige Corona-bedingte Praxis zeigt, dass internetbasierte Bürgerbeteiligung grundsätzlich funktioniert, dabei aber spezifische Schwächen gegenüber persönlichen Dialogformaten hat. Die logische Folgerung – aber auch das ist nichts Neues – lautet daher: wie brauchen eine sinnvolle Verknüpfung von internetbasierter und zwischenmenschlich-persönlicher Bürgerbeteiligung – ein Vorgehen, für das sich der Begriff „crossmedial“ herausgebildet hat.
Bisher scheitert crossmediale Bürgerbeteiligung häufig daran, dass die Verantwortlichen ihre Notwendigkeit nicht einsehen, den Aufwand scheuen oder unüberwindbare technische Hürden befürchten. Zumindest die letztgenannte Sorge wird durch die Corona-bedingten Erfahrungen ein für alle Mal ausgeräumt; jetzt wissen wir: es ist schwierig, aber es geht – bei Berücksichtigung der genannten Nachteile. Bürgerbeteiligung nach der Kontaktsperre muss nicht mehr fragen: brauchen wir online-Formate? Sie muss vielmehr darüber nachdenken, wie die unterschiedlichen Stärken und Schwächen von online- und offline-Formaten genutzt und durch zielführende Verknüpfung ausgeglichen werden können.
Zukünftig geht es nicht mehr um die „Ob“, sondern nur noch um die „Wie“-Frage. Zum Beispiel:
- Wie lassen sich (Bürger)versammlungen durch den Einsatz elektronischer Beteiligungsverfahren hinsichtlich der Teilnehmergewinnung und der Dialogkultur verbessern?
- Welche Phasen von Bürgerräten können online, welche müssen in Präzenzformaten durchgeführt werden?
- Welche Veranstaltungsformate mit Teilnehmer*innen, die sich schon länger kennen, lassen sich – wenn nicht dauerhaft, so doch vielleicht von Fall zu Fall – ins Netz verlagern?
Das ist die Chance, die sich für die Bürgerbeteiligung aus der Corona-Krise und der Kontaktsperre ergibt: elektronische und internetbasierte Beteiligungsverfahren sind zukünftig nicht mehr nur schmückendes Beiwerk, sondern elementarer Bestandteil von Bürgerbeteiligungsprozessen, sie werden von der Kür zur Pflicht. Zugleich aber macht die Kontaktsperre noch einmal deutlich, dass auf Präsenzveranstaltungen, bei denen Menschen persönlich zusammen treffen und in den direkten Dialog eintreten, auch zukünftig nicht verzichtet werden kann.